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Dr. Marc Wellmann | 2007

Hybriden (?)

Der deutsch-ungarische Maler Dénesh Ghyczy zeigt in der Ausstellung bei Erika Deák aktuelle Bilder von Köpfen und Figuren, die in komplexe, facettierte Strukturen aufgelöst sind und sich zum Teil aus mehreren Motiven zusammensetzen. Dabei geht es ihm nicht um eine Aufsplitterung der Dinge im Sinne des Futurismus oder Kubismus, also etwa um die Darstellung von Geschwindigkeit oder die simultane Vielansichtigkeit von Gegenständen. Dénesh Ghyczys Weg führt in eine Welt hinter die Oberfläche, geht in eine Tiefe, die sich eher im Mentalen ausloten lässt, als im bloß Sichtbaren.

Dénesh Ghyczy entwirft in diesen Bildern das Bild des zeitgenössischen Menschen in seiner heterogenen, hybriden, von der Eindringlichkeit des Medienzeitalters zerrissenen Identität. Sigmund Freud sprach von den drei „Kränkungen“, die der Mensch in der Neuzeit über sich ergehen lassen musste: Erst erfuhr er, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Dann büsste er durch die Etablierung der Evolutionstheorie das biblische Schöpfungsvorrecht ein. Schließlich wurde ihm durch die Psychoanalyse bewiesen, dass das Ich noch nicht einmal Herr im eigenen Haus sei, sondern von den seltsamen Kräften des Unbewussten beeinflusst wird. Die Konzepte modernen Neurowissenschaft haben sich indes mittlerweile verabschiedet von einer festen Kern-Individualität (wörtlich das „Unteilbare“ von lat. dividere). Vielmehr hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Ich, jenes Bollwerk ganzheitlicher Selbsterfahrung, eine imaginäre Konstruktion ist, die sich aus ungreifbaren präkognitiven, neuronalen Vorgängen aufbaut. Beispielsweise sind bewusste Gedanken oder Entscheidungen lediglich eine Art Abbildung von Gehirnaktivitäten, die sich etwa eine halbe Sekunde vorher in anderen kortikalen Bereichen abgespielt haben. Bevor wir einen Entschluss fassen, ist er sozusagen bereits getroffen worden. Wir haben über das Ich-Erleben lediglich die Illusion eines freien Willens und einer mündigen Selbstbestimmung. Ähnlich porös ist die Vorstellung eines kongruenten, in sich zentrierten Subjektes geworden. Identität wird von der heutigen Psychologie und Neurologie eher als Schnittmenge relationaler Netzwerke, Diskurse und Narrationen begriffen, die sich in multidimensionalen Identitätsfacetten überlagern können und einer ständigen Dynamik unterworfen sind.

Die Bilder in der Ausstellung markieren einen deutlichen Wandel in Dénesh Ghyczys künstlerischer Entwicklung. Noch vor etwa zwei Jahren galt sein Interesse optischen Phänomenen der Lichtbrechung und –streuung, die er mit gemusterten Glasplatten erzielte, welche vor das Motiv gehalten wurden. Dadurch entstanden eigentümlich verfremdete Ansichten von Landschaften und menschlicher Modelle, die auf zwei Ebenen gleichzeitig wirklich und imaginiert wirkten, nämlich sowohl als Realität hinter und als gebrochener Schein im Glas.

Dénesh Ghyczy hat eine klassische akademische Ausbildung an den Kunsthochschulen in Amsterdam, Budapest und Brüssel durchlaufen und ist handwerklich auf einem bemerkenswerten Niveau. Es erlaubt ihm, subtilste Nuancen, Lichter, Tönungen und Schatten in eine Farbwelt zu übertragen, die sich mehr als souverän gegenüber den Vorlagen behauptet. Nunmehr verwendet der Künstler neben analogen Mitteln auch die digitale Bildbearbeitung als kreatives Instrument. Durch die schier unbegrenzten Möglichkeiten und Freiheiten dieser Technik löste sich Dénesh Ghyczy zunehmend von mimetischen Prinzipien – auch wenn er sie nicht verleugnete – und gelangte auf einer anderen Ebene zur Wahrhaftigkeit seiner Bilder. Er versteht sein Verfahren der Fragmentierung, Verzerrung und Neukombination als einen strukturalistischen Prozess, der im Sinne von Roland Barthes Verwendung des Begriffs Simulacrum eine Welt entstehen lässt, die keine Kopie der Wirklichkeit liefert, sondern sie vielmehr einsehbar machen will. Es ist ein höchst kalkulierter, geradezu sezierender Vorgang, bei dem malerische Gesten lediglich suggeriert werden, doch im Detail aus gezielt gesetzten, fest umrissenen Elementen bestehen. Die ineinander fließenden, sich überlappenden oder miteinander verwobenen Teile lassen sich als Analogie zum Grundthema zeitgenössischen Ich-Erlebens verstehen.

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